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5 Eine Lesung von Alexander Solschenizyn’s Text “Lebe nicht von Lügen”. 5 Eine Lesung von Alexander Solschenizyn’s Text “Lebe nicht von Lügen”.
6 An dem Tag, an dem Solschenizyn verhaftet wurde, dem 12. Februar 1974, veröffentlichte er den Text von “Lebe nicht von Lügen”. 6 An dem Tag, an dem Solschenizyn verhaftet wurde, dem 12. Februar 1974, veröffentlichte er den Text von “Lebe nicht von Lügen”.
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    8  "Was sollten wir denn dagegen tun? Wir haben nicht die Kraft." Wir sind
    9 vom Menschlichen so hoffnungslos entfernt, daß wir für das tägliche
    10 kümmerliche Stückchen Brot alle Grundsätze aufgeben, unsere Seele, alles,
    11 worum sich unsere Vorfahren mühten, alle Möglichkeiten für die Nachkommen - um
    12 ja nicht unserere jämmerliche Existenz zu zerrütten.
    13
    14     Keine Härte, kein Stolz, kein leidenschaftlicher Wunsch ist uns geblieben.
    15 Wir fürchten nicht einmal den allgemeinen Atomtod, fürchten nicht den Dritten
    16 Weltkrieg (vielleicht verkriechen wir uns in ein Mauseloch), wir fürchten nur
    17 die Akte der Zivilcourage! Sich bloß nicht von der Herde lösen, keinen Schritt
    18 alleine tun - und plötzlich ohne Weißbrot, Warmwasserbereiter, ohne
    19 Aufenthaltsgenehmigung für Moskau dastehen.
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    21 Teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt,
    22 in ihm zu leben. Das geht über die Demütigung der geistigen Abtrennung noch
    23 hinaus, dann wird das Reich der verkehrten Welt aufgerichtet, und der
    24 Antichrist trägt die Maske des Erlösers, wie auf Signorellis Fresco in
    25 Orvieto. Der Teufel ist nicht der Töter, er ist Diabolos, der Verleumder, ist
    26 der Gott, in dem die Lüge nicht Feigheit ist, wie im Menschen, sondern
    27 Herrschaft. Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die
    28 Erkenntnis, er stiftet das Reich der Verrücktheit, denn es ist Wahnsinn, sich
    29 in der Lüge einzurichten.
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    31 Doch niemals wird sich etwas von selbst von uns lösen, wenn wir es alle Tag
    32 für Tag anerkennen, preisen und ihm Halt geben, wenn wir uns nicht wenigstens
    33 von seiner spürbarsten Erscheinung losreißen. Von der LÜGE. (...)
    34
    35 Und hier liegt nämlich der von uns vernachlässigte, einfachste und zugängigste
    36 Schlüssel zu unserer Befreiung: SELBST NICHT MITLÜGEN! Die Lüge mag alles
    37 überzogen haben, die Lüge mag alles beherrschen, doch im kleinsten Bereich
    38 werden wir uns dagegen stemmen: OHNE MEIN MITTUN!
    39
    40 Und das ist der Durchschlupf im angeblichen Kreis unserer Untätigkeit! - Der
    41 leichteste für uns und der zerstörerischte für die Lüge. Denn wenn die
    42 Menschen von der Lüge Abstand nehmen - dann hört sie einfach auf zu
    43 existieren. Wie eine ansteckende Krankheit kann sie nur in den Menschen
    44 existieren.
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    46 Wir wollen nicht ausschwärmen, wollen nicht auf die Straße gehen und die
    47 Wahrheit laut verkünden, laut sagen, was wir denken - das ist nicht nötig, das
    48 ist schrecklich. Doch verzichten wir darauf, das zu sagen, was wir nicht glauben.
    49
    50 Unser Weg: IN NICHTS DIE LÜGE BEWUSST UNTERSTÜTZEN! Erkennen, wo die Grenze
    51 der Lüge ist (für jeden sieht sie anders aus) - und dann von dieser
    52 lebensgefährlichen Grenze zurücktreten! Nicht die toten Knöchelchen und
    53 Schuppen der Ideologie zusammenkleben, nicht den vermoderten Lappen flicken -
    54 und wir werden erstaunt sein, wie schnell und hilflos die Lüge abfällt, und
    55 was nackt und bloß dastehen soll, wird dann nackt und bloß vor der Welt dastehen.
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    57 Somit, laßt uns unsere Schüchternheit überwinden, und möge jeder wählen: ob er
    58 bewußter Diener der Lüge bleibt (natürlich nicht aus Neigung, sondern um die
    59 Familie zu ernähren, um die Kinder im Geist der Lüge zu erziehen!), oder ob
    60 die Zeit für ihn gekommen ist, sich als ehrlicher Mensch zu mausern, der die
    61 Achtung seiner Kinder und Zeitgenossen verdient. Und von diesem Tage an wird er:
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    63 - in Zukunft keinen einzigen Satz, der seiner Ansicht nach die Wahrheit
    64 entstellt, schreiben, unterschreiben oder drucken;
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    66 - einen solchen Satz weder im privaten Gespräch, noch vor einem Auditorium,
    67 weder im eigenen Namen noch nach einem vorbereiteten Text, noch in der Rolle
    68 des politischen Redners, des Lehrers und Erziehers, noch nach einem
    69 Bühnenmanuskript aussprechen;
    70
    71 - in Malerei, Skulptur und Fotografie mit technischen oder musikalischen
    72 Mitteln keinen einzigen falschen Gedanken, keine einzige Entstellung der
    73 Wahrheit, die er erkennt, darstellen noch begleiten, noch im Rundfunk senden.
    74
    75 - weder mündlich noch schriftlich ein einziges "leitendes" Zitat anführen, um
    76 es jemandem recht zu tun, um sich zurückzuversichern, um in der Arbeit Erfolg
    77 zu haben, wenn er den zitierten Gedanken nicht vollständig teilt oder er keine
    78 klare Relevanz hat;
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    80 - sich nicht zwingen lassen, zu einer Demonstration oder einer Versammlung zu
    81 gehen, wenn sie seinem Wunsch und Willen nicht entspricht. Kein Transparent,
    82 kein Plakat in die Hand nehmen oder hochhalten, dessen Text er nicht
    83 vollständig bestimmt;
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    85 - die Hand nicht zur Abstimmung für einen Vorschlag heben, den er nicht
    86 aufrichtig unterstützt; nicht offen, nicht geheim für eine Person stimmen, die
    87 er für unwürdig oder zweifelhaft hält;
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    89 - sich zu keiner Versammlung drängen lassen, wo eine zwangsweise entstellte
    90 Diskussion zu erwarten ist;
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    92 - eine Sitzung, Versammlung, einen Vortrag, ein Schauspiel oder eine
    93 Filmvorführung sofort verlassen, wenn Lüge, ideologischer Unfug oder schamlose
    94 Propaganda zu hören sind;
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    96 - keine Zeitung oder Zeitschrift abonnieren oder im Einzelhandel kaufen, in
    97 der die Information verfälscht wird und die ursprünglichen Tatsachen vertuscht
    98 werden...
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    101 Wir haben selbstverständlich nicht alle möglichen und notwendigen Abweichungen
    102 von der Lüge aufgezählt. Doch wer sich um Reinigung bemüht,wird mit
    103 gereinigtem Blick leicht auch andere Fälle unterscheiden.
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    105 Ja, zunächst wird das nicht glattgehen. Der eine oder andere wird zeitweilig
    106 den Arbeitsplatz verlieren. Jungen Menschen, die nach der Wahrheit leben
    107 wollen, wird das anfangs ihr junges Leben sehr erschweren: denn auch der
    108 abgedroschene Unterricht ist voller Lüge. Man muß auswählen. Für niemanden
    109 aber, der ehrlich sein will, bleibt ein Versteck: für keinen von uns vergeht
    110 auch nur ein Tag, selbst nicht in den ungefährlichsten technischen
    111 Wissenschaften, ohne zumindest einen der genannten Schritte - entweder erfolgt
    112 er in Richtung auf die Wahrheit oder in Richtung auf die Lüge; in Richtung auf
    113 geistige Unabhängigkeit oder geistiges Kriechertum.
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    115 Wer aber nicht einmal zum Schutz seiner Seele genügend Mut aufbringt, der soll
    116 sich auch nicht seiner fortschrittlichen Ansichten rühmen, soll nicht tönen,
    117 er sei Akademiemitglied oder Volkskünstler, verdienter Funktionär oder General
    118 - der soll sich sagen: ich ein Herdentier und ein Feigling, ich will es nur
    119 satt und warm haben.
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    121 Sogar dieser Weg - der gemäßigste aller Wege des Widerstandes- wird für uns
    122 Eingerostete nicht leicht sein. Doch wieviel leichter ist er als
    123 Selbstverbrennung oder Hungerstreik: die Flamme ergreift deinen Körper nicht,
    124 die Augen platzen nicht vor Hitze, und Schwarzbrot mit Wasser findet sich
    125 immer für deine Familie. (...)
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    127 Das würde kein leichter Weg? - doch der leichteste der möglichen. Keine
    128 leichte Wahl für den Körper - doch die einzige für die Seele. Kein leichter
    129 Weg - doch gibt es bei uns bereits Menschen, sogar Dutzende, die seit Jahren
    130 alle diese Punkte durchhalten, die nach der Wahrheit leben.
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    132 Somit: nicht als erste diesen Weg beschreiten, sondern SICH ANSCHLIESSEN! Je
    133 leichter und je kürzer uns dieser Weg scheint, desto enger verbunden, in desto
    134 größerer Zahl werden wir ihn einschlagen! Werden wir Tausende sein, dann wird
    135 man keinem mehr etwas tun können. Werden wir aber Zehntausende sein - dann
    136 werden wir unser Land nicht wiedererkennen!
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    138 Wenn wir aber in Feigheit zurückschrecken, dann sollten wir die Klage lassen,
    139 jemand ließe uns nicht atmen - das sind wir selbst! Werden wir uns weiter
    140 beugen und abwarten, dann werden unsere Brüder von der Biologie dafür sorgen,
    141 daß der Augenblick naht, zu dem man unsere Gedanken liest und unsere Gene
    142 umwandelt.
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    144 -- Alexander Solschenizyn, "Offener Brief an die sowjetische Führung",
    145 Darmstadt und Neuwied 1974.