Eingefroren, aber nutzbar
Die EuropĂ€ische Union (EU) diskutiert seit Wochen darĂŒber, die Ukraine mit eingefrorenem russischen Zentralbankvermögen zu unterstĂŒtzen. Im Zentrum steht dabei die Idee eines EU-Reparationsdarlehens, das den eigenen Haushalt entlasten und gleichzeitig eine unliebsame Konfiskation vermeiden soll. Entgegen vorgebrachter Bedenken ist eine völkerrechtskonforme Konstruktion unter reduzierten Haftungsrisiken möglich.
Eine finanzielle Bestandsaufnahme
Mit etwa 210 Mrd. Euro befindet sich der GroĂteil des weltweit eingefrorenen russischen Zentralbankvermögens in der EU. Der belgische Zentralverwahrer Euroclear verwaltet rund 194 Mrd. Euro, nunmehr in Form von Barvermögen. Normalerweise wĂŒrde die Zentralbank als GlĂ€ubiger dieses Geld sofort reinvestieren oder abziehen. Das seit Ende Februar 2022 intakte Transaktionsverbot (das âEinfrierenâ) verhindert jedoch genau das, wodurch es zur Akkumulation der Gelder kommt. Euroclear ist regulatorisch dazu angehalten, dieses Barguthaben zu reinvestieren, um Kreditrisiken zu minimieren.
Infolge der regelmĂ€Ăig generierten ErtrĂ€ge steigen die verwalteten BarbestĂ€nde damit kontinuierlich an. Die Gelder sind Teil eines einzigen und unteilbaren Girokontos bei Euroclear, dessen Unterteilungen allein buchhalterischen Zwecken dienen. Konkret folgt aus den allgemeinen Vertragsbedingungen sowie aus dem belgischen und europĂ€ischen Rechtsrahmen, dass das russische Barvermögen eine Buchposition Euroclears darstellt, welche bloĂ schuldrechtliche Forderungen begrĂŒndet. Russland stehen damit keine Eigentumsrechte an dem Barguthaben selbst zu, was auch die Kommission annimmt.
VorlÀufermodell
Bereits jetzt wird auf die sanktionsbedingten ErtrĂ€ge der eingefrorenen Gelder zugegriffen. Art. 1 (1) der Verordnung 2024/1469 sieht vor, dass 99,7 % der mittels des eingefrorenen Zentralbankvermögens generierten Mehreinnahmen abzuschöpfen sind, indem Zentralverwahrern wie Euroclear eine halbjĂ€hrliche Abgabepflicht auferlegt wird. AngestoĂen durch ein gemeinsames Konzeptpapier der G7-Staaten beschloss die EU mit der Verordnung 2024/2773, dass die so abgeschöpften ErtrĂ€ge anteilig zur Sicherung darlehensbasierter Finanzhilfen an die Ukraine in Höhe von etwa 18 Mrd. Euro genutzt werden (sog. macro-financial assistance loans (MFAâDarlehen)). Das MFA-Darlehen ist der Beitrag der EU zu den Darlehenshilfen der G7-Staaten, die sich insgesamt auf 45 Mrd. Euro belaufen.
Die Finanzierung der Darlehen stellt die Kommission durch die Aufnahme von Krediten sicher. An dieser Stelle kommen nun die abgeschöpften ErtrĂ€ge ins Spiel. Bei RĂŒckzahlung der MFA-Darlehen sowie der bilateralen Darlehen greift eine Kaskaden- bzw. Wasserfallstruktur: auf der ersten Stufe sind allein jene abgeschöpften ErtrĂ€ge heranzuziehen. Erst wenn diese nicht ausreichen, ist auf weitere RĂŒckzahlungsmöglichkeiten zurĂŒckzugreifen, ehe die Ukraine selbst haften wĂŒrde. Eine Einstandspflicht der Mitgliedstaaten ist hingegen nicht vorgesehen; vielmehr begnĂŒgt sich die EU in ErwĂ€gungsgrund 30 mit einem Hinweis auf auĂerordentliche Haushaltsgarantien im MehrjĂ€hrigen Finanzrahmen.
Die Konstruktion des Reparationsdarlehens
Die Idee des Reparationsdarlehens geht dagegen noch einen Schritt weiter und nimmt das eingefrorene Stammvermögen selbst in den Blick. Wie sich der bisherigen Diskussion (siehe etwa hier, hier, hier und hier) und konkret dem Kommissionsentwurf entnehmen lĂ€sst, lĂ€sst sich die anvisierte Konstruktion wie folgt herunterbrechen: Die zunĂ€chst verwendete Bezeichnung als tailored debt-contract findet sich im Kommissionsentwurf als debt instrument wieder. Hiernach wird die Kommission ermĂ€chtigt, das Barguthaben insbesondere von Zentralverwahrern wie Euroclear zu leihen, vgl. Art. 23 (1) i.V.m. Art. 4 (1) (a). Der Wortlaut (âempowered [..] to borrowâ) erinnert stark an die Finanzierung der MFA-Darlehen sowie an die KreditermĂ€chtigung hinsichtlich Next Generation EU (NGEU). Es handelt sich allerdings nicht um gewöhnliche Kreditaufnahmen wie die konkreten Parameter des debt instruments in Art. 23 (2) nahelegen. Die so generierten Mittel sind der Ukraine als Darlehen zur VerfĂŒgung zu stellen. Voraussetzung hierfĂŒr ist, dass die Ukraine rechtsstaatliche Garantien achtet und Korruption bekĂ€mpft, kombiniert mit einer Kontrolle des finanziellen Bedarfes, Art. 5 (1, 2). Vorbehaltlich des tatsĂ€chlich verwalteten Barvermögens wird der maximale Gesamtbetrag von 210 Mrd. Euro progressiv bis Ende 2030 zur VerfĂŒgung gestellt, Art. 4 (1). Allerdings sollen hieraus zugleich die bisherigen Darlehenshilfen rĂŒckgezahlt werden, Art. 10 (2).
Der Entwurf des Reparationsdarlehens unterscheidet sich von dem obigen MFA-Darlehen primĂ€r dadurch, dass Euroclear bislang anhand eigener Richtlinien das russische Vermögen mittels Einlagen bei der EZB (re-)investiert hat, die EU nun aber vorschreiben wĂŒrde, wie das Geld anzulegen wĂ€re. Zudem begrenzt sich die Kreditaufnahme der EU auf eine zugeschnittene Schuldverschreibung bloĂ gegenĂŒber bestimmten Finanzinstituten, womit nicht nur die Verwendung, sondern auch die Beschaffung der Gelder zweck- und gegenstandsbezogen ist. Die zumindest quantitative Einbindung der vormalig russischen Vermögenswerte in das Reparationsdarlehen dient somit nicht als bloĂe Sicherheit.
DarĂŒber hinaus bleibt ein finaler Entzug der zugrundeliegenden russischen Vermögenwerte weiterhin möglich. Konkret könnte die Rechtsgrundlage des Reparationsdarlehens ein sog. set-off-Verfahren als weiterfĂŒhrende Handlungsoption umfassen. Die Konstruktion lĂ€sst sich vereinfacht als Verrechnungs- bzw. Aufrechnungslösung beschreiben: ZunĂ€chst stellt die Ukraine der EU als Darlehensgeberin ihre Forderungen gegenĂŒber Russland als Sicherheit. Kommt es nun zur RĂŒckzahlungspflicht an Euroclear, kann die EU in eben diese Sicherheit vollstrecken, sodass die Kompensationsforderungen auf sie ĂŒbergehen. Infolge der somit hergestellten Gegenseitigkeit zu der Forderung Russlands auf RĂŒckzahlung der eingefrorenen Vermögenswerte kann es zur Verrechnung kommen. Rechtlich zweifelsfrei ist diese Option gleichwohl nicht; der Kommissionsentwurf geht hierauf gar nicht erst ein. Vielmehr steht der Entwurf ganz im Zeichen der PrĂ€misse, sauber zwischen AnsprĂŒchen und Barvermögen zu trennen und Ersteres nicht anzutasten.
Eine völkerrechtskonforme GegenmaĂnahme?
Wie bereits gegenĂŒber einer möglichen Konfiskation eingewandt, muss sich jedoch auch ein Reparationsdarlehen daran messen lassen, ob es rechtlich zulĂ€ssig ist.
So weist etwa Buatte darauf hin, dass Eigentumsrechte Russlands beeintrĂ€chtigt werden könnten. Die Miteigentumsrechte an den ursprĂŒnglich gehaltenen Sicherheiten wirken jedoch nicht fĂŒr das nun bestehende Barguthaben fort. Ăberdies findet sich in den Vertragsbedingungen Euroclears der Hinweis auf eine mögliche BeeintrĂ€chtigung von Vermögenswerten durch die Befolgung etwaiger Sanktionsanordnungen; ein schutzwĂŒrdiges Vertrauen Russlands erscheint vor diesem Hintergrund fragwĂŒrdig.
Denkbar ist hingegen eine Verletzung der StaatenimmunitĂ€t, die â jedenfalls bei analoger Anwendung oder im Wege einer interpretativen Erweiterung â auch gegenĂŒber formell nicht gerichtlichen MaĂnahmen greifen könnte. Gleichzeitig ist es nicht das bei Euroclear verbuchte Barvermögen, sondern sind es vielmehr die zugrundeliegenden AnsprĂŒche Russlands gegen Euroclear, die ImmunitĂ€tsschutz genieĂen, womit allein das Einfrieren selbst als Verletzungshandlung in Frage kommt. Ăberdies lieĂe sich auf weitere Völkerrechtsnormen zurĂŒckgreifen, um eine SchutzlĂŒcke der ImmunitĂ€t zu schlieĂen.
Auch wenn eine Verletzung von Völkerrecht damit jedenfalls möglich scheint, muss eine völkerrechtliche Betrachtung jedoch auch das Verhalten Russlands einbeziehen. Die Völkerrechtswidrigkeit des russischen Angriffskrieges ist unstrittig. Hinzu kommt, dass die bislang unterlassenen Reparationsleistungen selbst eine (sekundĂ€rrechtliche) Völkerrechtsverletzung begrĂŒnden. Die primĂ€r verletzten Pflichten stammen aus sog. ius cogens Normen und gelten erga omnes, also gegenĂŒber der gesamten Staatengemeinschaft. Insbesondere dieser Umstand trĂ€gt die (wenngleich nicht unumstrittene) Annahme, dass auch andere Staaten als die Ukraine â sog. Drittstaaten â zu GegenmaĂnahmen greifen können. Gemeint sind hiermit Handlungen, die unter bestimmten Voraussetzungen nicht völkerrechtswidrig sind (Art. 22, 49 ff., 54 Draft articles on responsibility of States for internationally wrongful acts). Damit auch das Reparationsdarlehen hiervon umfasst ist, muss es sich um eine temporĂ€re und weitestgehend reversible MaĂnahme handeln.
Euroclear schuldet die RĂŒckzahlung einer bestimmten Summe; das russische Vermögen ist kein identifizierbarer Gegenstand. Dieser Anspruch als âVermögensstammâ besteht fort, wenn Euroclear, wie ĂŒblich, einen Teil des verwalteten Barguthabens in Wertpapiere umschichtet. Die Sicherheiten des debt instrument fungieren damit faktisch als eine Art Platzhalter fĂŒr das weitergeleitete Barvermögen, das substanziell erhalten bleibt. Im letzten Satz von Art. 23 (2) des Kommissionsentwurfs ist gar von einer Einordnung als bargeldĂ€hnlich die Rede.
Einen weiterhin flexiblen Zugriff auf die verwahrten Vermögenswerte lieĂe sich dadurch erreichen, dass die RĂŒckzahlungspflicht unmittelbar durch ein Entfrieren der Gelder ausgelöst wird. Damit stĂŒnde das Reparationsdarlehen, wie auch das Transaktionsverbot, unter der auflösenden Bedingung russischer Kompensationszahlungen oder alternativ einer rechtlich vorgesehenen Freigabe der Gelder. Dieser Umstand hĂ€lt Russland weiter dazu an, auf den Boden des Völkerrechts zurĂŒckzukehren. Allein die faktische AnmaĂung der VerfĂŒgungsbefugnis durch die EU Ă€ndert nichts an der rechtlichen Zuordnung der Gelder. Andernfalls mĂŒsste auch das Einfrieren bereits als konfiskatorisch qualifiziert werden; ein Vorwurf, wie ihn selbst Russland nicht erhoben hat. Ebenso wie bei blockierten Transaktionen ist damit auch das Reparationsdarlehen hinreichend reversibel. Eine dezentrale Durchsetzung völkerrechtlicher Reparationspflichten wĂŒrde somit vermieden werden, die EU wĂŒrde sich nicht der Rolle des Internationalen Gerichtshofes oder des Sicherheitsrates anmaĂen.
Haftungsrisiken
Dennoch ist die Idee nicht frei von Haftungsrisiken, sowohl in Bezug auf die Schuldverschreibung etwa gegenĂŒber Euroclear als auch in Bezug auf den bloĂ gehemmten RĂŒckzahlungsanspruch Russlands. Neben den eher geringen rechtlichen Risiken, etwa dass die gegenwĂ€rtigen EU-Sanktionen gerichtlich aufgehoben werden oder es zu Schadensersatzklagen Russlands kommt, besteht vor allem ein politisches Risiko, denn geopolitische Interessen in der EU verlaufen heterogen. Doch auch dieses Risiko wird reduziert. Nachdem bislang eine einstimmige VerlĂ€ngerung der Sanktionen erforderlich war, sollen die russischen Vermögenswerte nun auf unbegrenzte Zeit eingefroren werden.
Gleichwohl mĂŒssen adĂ€quate Mechanismen bereitstehen, um eine jederzeitige RĂŒckzahlung der Gelder zu gewĂ€hrleisten. Der Kommissionsentwurf berĂŒcksichtigt dies. Vorrangig und idealerweise erfolgen freiwillige russische Kompensationszahlungen, womit sich Russland faktisch freikaufen wĂŒrde. Unterbleibt dies, sollen nationale Garantien bereitstehen. Diese sind zugleich eine Bedingung fĂŒr korrespondierende Auszahlungen des Darlehens, Art. 4 (1) (b). DarĂŒber hinaus kann die EU zu liquiditĂ€tssichernden MaĂnahmen greifen, die allerdings zunĂ€chst bloĂ der ErfĂŒllung der nationalen Garantien dienen sollen.
Potenziell brisant ist die Ausgestaltung der nationalen Garantien im Kommissionsentwurf; ihre Notwendigkeit folgt aus dem bereits ausgereizten EU-Haushalt. Die Haftungssummen sollen sich am jeweiligen Bruttonationaleinkommen der Mitgliedstaaten orientieren, Art. 25 (3), womit insbesondere der Sorge Belgiens vor ungeklĂ€rten Haftungsquoten hinreichend Rechnung getragen wird. Auch ein unvorhersehbares, gesamtschuldnerisches Haftungsrisiko fĂŒr die Mitgliedstaaten geht hiermit nicht einher (vgl. auch BVerfGE 164, 193 Rn. 202, 213 ff.). Ăberdies dienen die bilateralen Garantien bloĂ der ĂberbrĂŒckung, da sie mit dem kommenden MehrjĂ€hrigen Finanzrahmen durch unionale Garantien abgelöst werden sollen, Art. 26 (f) i.V.m. Art. 4 (5). Damit soll die LiquiditĂ€tssicherung ab 2028 vollstĂ€ndig in den EU-Haushalt integriert werden. Es handelt sich zwar um keine âVorleistungâ der EU Ă Â la MFA-Darlehen, jedoch entstĂŒnden wohl eigenmittelbasierte RĂŒckstellungen fĂŒr die Eventualverbindlichkeiten.
In Anlehnung an die Konzeption der 750 Mrd. Euro umfassenden KreditermĂ€chtigung im Rahmen von NGEU zeigt sich hierin die konsequente FortfĂŒhrung der spĂ€testens seit der COVID-19-Pandemie etablierten Krisen-Architektur in Form kollektiver Einstandspflichten. WĂ€hrend dort die RĂŒckzahlung der bis zu 750 Mrd. Euro aufgenommenen Kredite jedoch definitiv ist, hĂ€ngt die RĂŒckzahlung der 140 Mrd. Euro an Euroclear kumulativ von unterbleibenden Kompensationszahlungen Russlands, einer rechtlich oder politisch bedingten Freigabe der Gelder sowie von einem Verzicht auf das set-off Verfahren ab.
Insgesamt bereitet das Reparationsdarlehen damit keinen Weg in eine âSchuldenunionâ â es geht vielmehr um die finanzielle Entlastung der EU mittels eines temporĂ€ren und krisengebundenen Instrumentes.
Ausblick
Im Ergebnis kann die Konstruktion des Reparationsdarlehens die rechtlichen und finanziellen Risiken zwar nicht völlig ausschlieĂen, aber weitestgehend minimieren. Die Kombination mit einem potenziellen set-off Verfahren wĂ€re wĂŒnschenswert, da es ein Spielen auf Zeit ermöglicht: Das eingefrorene Vermögen kann weiter als Hebel in Friedensverhandlungen eingesetzt werden, die Handlungsoptionen werden offengehalten und eine wĂŒnschenswerte Legitimation der russischen Kompensationspflichten durch internationale Gerichte wird wahrscheinlicher.
Gleichzeitig zeigt die Dissonanz von rechtlichem Können und tatsÀchlichem Handeln auf, dass es letztlich vom politischen Willen abhÀngt, ob rechtliche Risiken eingegangen werden. Es bleibt zu hoffen, dass die EU einen Meilenstein schaffen wird, der das Völkerrecht respektiert und seine Geltung demonstriert. Ein Reparationsdarlehen kann diesen Balanceakt bewÀltigen.
The post Eingefroren, aber nutzbar appeared first on Verfassungsblog.