«JAMA»-Studie: Kaum Hinweise auf Nutzen von medizinischem Cannabis
Medizinisch ist Cannabis mit der Hoffnung verbunden, bei schweren chronischen Krankheiten wie chronischen Schmerzen, Multipler Sklerose, Epilepsie, Krebs und HIV/AIDS Linderung zu verschaffen, insbesondere wenn Standardtherapien versagen. Dabei wurde sogar die Behauptung aufgestellt, der Cannabis-Wirkstoff hemme die Vermehrung von SARS-CoV-2 in menschlichen Lungenzellen.
Doch es gibt auch kritische Stimmen. Was die Cannabis-Legalisierung angeht, so berichtete der Focus Mitte August von einer «NRW-Wut auf Lauterbach», weil die Versprechen von Karl Lauterbachs Cannabis-Gesetz «nicht eingehalten werden konnten». Folge: «In Nordrhein-Westfalen kĂ€mpfen StaatsanwĂ€lte jetzt mit tausenden neuen Strafakten und GroĂdealer werden einfach freigesprochen. Wird die Mocro-Mafia zum gröĂten NutznieĂer der Lauterbach-Novelle?»
Doch nicht nur das Gesetz scheint seine TĂŒcken zu haben, auch stehen die Hoffnungen, die mit Cannabis in Verbindung gebracht werden, auf wackeligeren FĂŒĂen als viele meinen. So kommt eine neue umfassende Ăbersichtsarbeit zu dem ernĂŒchternden Fazit, dass die wissenschaftliche Evidenz fĂŒr den therapeutischen Nutzen bei den meisten Anwendungen schwach, inkonsistent oder gar nicht vorhanden ist. Das berichtet etwa die New York Times. Zitiert wird Michael Hsu, Suchtpsychiater und Dozent an der University of California in Los Angeles (UCLA) und Hauptautor der Studie, mit folgenden Worten:
«Die Evidenz unterstĂŒtzt derzeit nicht den Einsatz von Cannabis oder Cannabinoiden fĂŒr die meisten Indikationen, fĂŒr die Menschen es nutzen.»
Eine solche Aussage hat auch fĂŒr die Vereinigten Staaten Relevanz. Dort greifen Millionen Menschen zu Cannabis, um Schmerzen, AngstzustĂ€nde und Schlafstörungen zu lindern. In 40 Bundesstaaten ist medizinisches Cannabis legal, und die Branche hat einen Wert von 32 Milliarden Dollar.
Die Studie erschien kĂŒrzlich im bedeutenden Journal of the American Medical Association (JAMA). FĂŒr die Analyse werteten Suchtexperten aus mehreren akademischen Zentren in den USA und Kanada ĂŒber 2.500 klinische Studien, Leitlinien und Umfragen aus den Jahren 2010 bis 2025 aus. Festgestellt wurde darin ein groĂer Graben zwischen den GrĂŒnden, aus denen die Ăffentlichkeit Cannabis medizinisch einsetzt, und dem, was die evidenzbasierte Medizin tatsĂ€chlich belegt.
Die Forscher unterscheiden klar zwischen «medizinischem Cannabis» aus Apotheken oder Dispensaries (apothekenÀhnlichen LÀden) einerseits und pharmazeutisch zugelassenen Cannabinoiden (also den wenigen PrÀparaten, die von der US-Arzneimittelbehörde FDA genehmigt sind) andererseits. Diese enthalten entweder niedrig dosiertes THC (den psychoaktiven Wirkstoff) oder CBD (den nicht berauschenden Bestandteil).
Was die pharmazeutisch zugelassenen Cannabinoide angeht, so gibt es Evidenz aus randomisierten klinischen Studien (RCTs) und Meta-Analysen fĂŒr wenige spezifische Indikationen: Chemotherapiebedingte Ăbelkeit und Erbrechen (kleiner, aber signifikanter Effekt), Appetitlosigkeit/Anorexie bei HIV/AIDS (moderater Effekt auf Gewichtszunahme, sprich: die behandelte Gruppe nahm im Durchschnitt spĂŒrbar mehr Gewicht zu als die Placebo-Gruppe) und bestimmte kindliche Epilepsieformen (zum Beispiel mit reinem CBD wie Epidiolex).
Bei medizinischem Cannabis hingegen ist die Evidenz insuffizient, schwach oder fehlend fĂŒr die meisten Indikationen. Das betrifft auch die gĂ€ngigsten Indikationen wie chronische Schmerzen, Angst oder Schlafstörungen. FĂŒr akute Schmerzen gibt es laut der Studie keine Evidenz â weder fĂŒr zugelassene Cannabinoide noch fĂŒr medizinisches Cannabis. RCTs unterstĂŒtzen keinen Nutzen.
Starke Evidenz beschrĂ€nkt sich demnach auf die zugelassenen, standardisierten Cannabinoide bei den genannten wenigen Erkrankungen. FĂŒr alles andere (und insbesondere pflanzliches medizinisches Cannabis) reicht die Datenlage nicht aus, wĂ€hrend Risiken (etwa AbhĂ€ngigkeit bei fast 30 Prozent der Nutzer, kardiovaskulĂ€re Probleme) betont werden.
Basierend auf aktuellen Marktanalysen und Studien (Stand 2024/2025) dominiert derweil in LĂ€ndern wie den USA und Deutschland der Konsum von medizinischem Cannabis den medizinischen Einsatz bei weitem. Pharmazeutisch zugelassene Cannabinoide machen nur einen kleinen Anteil aus, da sie auf spezifische Indikationen beschrĂ€nkt sowie teurer und weniger zugĂ€nglich sind. Der GroĂteil der Betroffenen greift auf pflanzliche Varianten zurĂŒck, oft in der Hoffnung, damit etwas gegen chronische Schmerzen oder Angststörungen bewirken zu können.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich viele Ărzte unzureichend vorbereitet wĂ€hnen. Weltweit geben nur 33 Prozent an, sich fĂŒr kompetent zu halten, wĂ€hrend 86 Prozent mehr Fortbildung wĂŒnschen. Die Autoren unterstreichen auch, dass es einen wachsenden Konflikt gebe zwischen der gesellschaftlichen Normalisierung von Cannabis und der wissenschaftlichen RealitĂ€t. WĂ€hrend die Akzeptanz und der Konsum steigen, bleibe die Evidenz fĂŒr die gĂ€ngigsten medizinischen Anwendungen dĂŒnn â und die Risiken wie AbhĂ€ngigkeit oder kardiovaskulĂ€re Probleme seien nicht zu unterschĂ€tzen.
Kevin Hill, Mitautor der Studie und Leiter der Abteilung fĂŒr Suchtpsychiatrie am Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston, fasst es folgendermaĂen zusammen:
«Es gibt einige legitime Anwendungen fĂŒr diese Substanzen, aber fĂŒr viele Menschen, die es medizinisch nennen, ist es das nicht wirklich.»
Derweil regt sich auch Kritik an der Studie. Cannabishealthnews.co.uk etwa weist darauf hin, Kritiker wĂŒrden bemĂ€ngeln, dass in dem Review die Auswahl der Studien intransparent sei und negative Ergebnisse ĂŒberbetont wĂŒrden, wĂ€hrend Forschung, die mögliche therapeutische Vorteile zeigt, weniger Beachtung finde.
Hier stellt sich allerdings die Frage nach der UnabhĂ€ngigkeit von Cannabishealthnews.co.uk. Die Website kann nur schwer als isolierte News-Plattform verstanden werden, da sie eng mit dem Cannabis Health Magazine verknĂŒpft ist und im Profil des Magazins ausdrĂŒcklich als dessen Online-News-Quelle gefĂŒhrt wird. Sie gehört damit zum Informationsangebot desselben publizistischen Projekts unter der Marke «Cannabis Health», die von Prohibition Partners betrieben wird.
Prohibition Partners wiederum ist kein rein journalistisches Medienhaus, sondern ein auf den globalen Cannabismarkt spezialisiertes Unternehmen. Entsprechend ist cannabishealthnews.co.uk im Umfeld der Cannabis-Industrie positioniert, unter anderem durch die Einbindung in Branchenstrukturen wie den Cannabis Industry Council sowie durch seine institutionelle Anbindung an Prohibition Partners.
Die University of California, Los Angeles (UCLA) wiederum schreibt:
«Die Autoren [der Studie] wiesen [selbst] auf mehrere EinschrĂ€nkungen ihrer Ăbersichtsarbeit hin. So war die Arbeit keine systematische Ăbersichtsarbeit, und es wurde keine formale Bewertung des Verzerrungspotenzials der eingeschlossenen Studien vorgenommen.
Mehrere Studien in der Ăbersichtsarbeit waren Beobachtungsstudien und können Verzerrungen unterliegen. DarĂŒber hinaus sind Empfehlungen aus klinischen Studien aufgrund von Unterschieden in ihrem Design, den Patientenmerkmalen und den getesteten Cannabisprodukten möglicherweise nicht auf alle Patienten anwendbar.»
Dagegen wĂ€re allerdings einzuwenden, dass es sich bei der Arbeit zwar tatsĂ€chlich um keinen «systematische Review» handelt und keine formale Bewertung des Verzerrungspotenzials der eingeschlossenen Studien vorgenommen wurde, doch beides ist methodisch zulĂ€ssig, wenn â wie hier â ausdrĂŒcklich eine klinische Einordnung und keine quantitative Evidenzsynthese angestrebt wird. JAMA positioniert den Artikel auch ausdrĂŒcklich als Clinical Review, nicht als Cochrane-Analyse. Und viele Leitlinien, wie die der WHO zum Beispiel, beginnen mit genau solchen Reviews, bevor formale Metaanalysen folgen.
Das Argument von Kritikern lautet also sinngemÀà oder ĂŒberspitzt formuliert: Weil die Studien schlecht sind, darf man keine negativen SchlĂŒsse ziehen. Die Autoren â und das ist zentral wichtig â sagen jedoch: Weil die Studien schlecht sind, kann man keine positiven SchlĂŒsse ziehen. In der evidenzbasierter Medizin gilt ja auch: Abwesenheit guter Evidenz â Evidenz fĂŒr Wirksamkeit. Therapien tragen die Beweislast, nicht die Skepsis!
Und was den Einwand betrifft, die Studienergebnisse lieĂen sich nicht auf alle Patienten ĂŒbertragen, so gilt dieser im Grunde fĂŒr jede Studie zu einer medizinischen Intervention, darunter zu Antidepressiva und Schmerzmitteln.
Die Konsequenz kann also nur lauten: «Dann brauchen wir bessere Studien.» Auch das spricht daher nicht gegen die Studie, sondern bestÀtigt ihren zentralen Befund.